Samstag, August 1

höre, wie ich fühle

Ich habe die Bedeutung verloren von der Sonne, die warm über den Horizont ihre Arme ausstreckt und sich mir um das Gesicht legt. Die Bedeutung, wenn der Holzgeruch sich in meiner Nase wiederfindet nach dem Regen, dass ich immer dachte Schuhe aus, komm schon, tanz, Mädchen. Die Bedeutung die Hände von einer Person zu halten, sich die Liebe versprechen und kein anderes Lächeln mehr so sehr wie von dem anderen zu begehren. Aber am meisten die Bedeutung zu leben.

Ich weiß nicht, Mama. Ich weiß nicht, wie dir erklären, dass ich 22 bin und jeder winzige Augenblick unter eurem Dach mir heute noch alles kaputt macht. Immer daran geglaubt, wenn ich nur ausziehe, die Türe stehen offen, das Leben weit und breit. Vier Jahr bin ich schon weg, aber das Gefühl zu zerfallen bleibt. Jeder neue Tag tut aufs Neue wieder am meisten weh. Und jeder einzelne Teil, den ihr mir je geraubt habt, fehlt jeden Morgen doppelfach auf das Ganze.

Sie sieht mich an, Mama, und versucht zu erklären, dass wenn ich nur genug übe und übe, dass ich irgendwann mal besser mit allem umgehen kann. Ich will aber nicht üben, Mama, ich will nicht, dass es für immer schwer und schmerzhaft ist. Ich will nicht die Hoffnung auf etwas tragen, dessen selbst Fragmente so weit von meinem Blickfeld entfernt sind. Sie sieht mich an, Mama. Sie sieht mich an und sagt mir, es tut ihr leid, aber dass ich mich nicht ändern werde. Und es steht klar, es gibt keinen Grund mehr dafür, dass ich noch lebe und versuche.
Sie umarmt mich, Mama. Sie umarmt mich und ich weiß nicht, wer die Umarmung gerade mehr braucht. Ihre Tränen fallen mir auf die Arme, sie sagt Es tut mir leid. Sie sagt Es tut mir so so leid
Sie fragt mich, ob ich mich umbringen will, Mama. Ich sag, ich würde einfach gerne nicht mehr leben und denk an all die Male an meinem Geburtstag als die Kerzen ausgingen. Wie kann es der Wunsch von einer Dreizehn-Jährigen sein - bitte bitte - nicht mehr zu leben. Mit 21, Mama, wünschte ich zum ersten Mal einen Menschen mehr als zu sterben. Ich sah ihn an und es gab Pizza statt Kuchen, aber ich wünschte mir Bitte bleib. Ich will nicht mehr alleine sein und alles immer selbst versuchen. Aber er ging. Er ging, weil ich so schwer war und seine Liebe mit meiner Last irgendwann nicht mehr klar kam.
September, 22 und ich beugte mich wieder einmal vor zu den Kerzen. Dachte an all die einzelnen Male und an den Mann, den ich neben mir hatte. Und wieder wünschte ich nicht mehr zu leben. Ich wusste sowieso er würde irgendwann gehen. Denn auch er steht lieber auf der gegenüberliegenden Straßenseite und fragt, warum ich mich denn einfach nicht ändere. Du bist so versessen, du bleibst immer an den schlimmsten Dingen hängen.
Und ich wünschte mir, ich könnte dich anschreien, dir es erklären. Wenn Worte für all meine Gedanken und Gefühle ausreichen könnten, würde ich dir das Gefühl erzählen unter den Händen meines Vaters erdrückt zu werden, wie seine Stimme durch meine Ohren hallte, wie das Wasser mir in die Lungen stieg. Oder das Zucken meiner Glieder danach, die Haare, die sich im Nacken aufstellten, die Schreie, die sich im Hals sammelten, nur weil er dieses Mal am Esstisch neben mir saß oder zu laut ausatmete oder sich zu schnell bewegte und ich vor Panik meinen eigenen Namen vergaß. Darüber erzählen, wie es war von den Lippen heißes Blut zu tropfen bis meine Mutter mich aus seinen Händen riss, denn Hör auf, sonst kannst du ihr Gesicht der Schule nicht erklären. der einzige Grund war, dass sie schließlich eingriff. Dir das Bild von meinem Gesicht malen, das nie so sehr weh hätte tun können, wie meine Seele mit fucking elf Jahren. Ich würde dich anschreien mit dem Gefühl, dass sich Feuer in der Brust sammelt, die Finger sich selbst brechen wollen, wenn deine eigene Mutter danach aus dem Nebenzimmer dir rüberschreit, Hör auf zu weinen, ich kann dich gar nicht mehr hören. Wie stille Enttäuschungen Stimmen rauben können, jedes Mal am Esstisch auch etwas erzählen zu wollen, aber Halt die Klappe, du interessierst keinen. Und dir dabei meine zitternden Hände vor die Augen halten, denn nach so vielen Jahren kann ich immer noch keine scheiß Geschichte erzählen ohne meinen nervösen Herzschlag in den Ohren hören zu müssen.
Irgendwie versuchen dir das Gefühl näher zu bringen, wie mein Herz jeden Tag rang und kämpfte, bis es irgendwann lieber sterben wollte. Dass es manchmal so sehr aufs Neue bricht, dass es zerspringen möchte. Aus der Brust heraus zersplittern und alles im Raum mit sich umbringen. Dass nichts, ja nichts übrig bleiben und mir jemals wieder weh tun kann.
Ich wünscht ich könnt dir gegenüber stehen und sagen, dass es nicht meine Schuld ist und du mich nicht hassen darfst. Ich wünscht ich könnte dir die selben Worte sagen, die ich mir selbst nie geglaubt hab. In der Ecke meines Zimmers, blutend aus den Armen, wie ich mit 16, 17, 18, 19 mir am liebsten selbst zugeflüstert hätte Çağla, es ist nicht deine Schuld, bitte tu dir deshalb nicht selbst weh. Ich wünschte ich könnte den Moment für dich wie einen Film abspielen: Dort in der Ecke, wie ich in Blut bade; mir so sehr Selbstliebe wünsche, aber das einzige was ich fühle ist, dass ich Nichts bin und auch nie wieder etwas sein will.

Und ich bin 22, sitze auf den Fußboden meines neuen Zimmers und alles, was ich rausbringe ist, dass ich Nichts bin und wirklich wirklich nicht mehr sein will. Weil ich einfach nicht etwas anderes sein kann, auch in 60 Jahren nicht.




2 Kommentare:

  1. Ich … kenne viele dieser Gedanken und Gefühle. Und so so gerne würde ich jetzt einen Rat geben, dir versichern, dass eines Tages alles "besser" wird - aber das kann ich nicht. Weil es sich so anfühlt, als würde sich nie etwas ändern. Also bleibt mir nur, dir zu sagen, dass du nicht alleine bist. Ich bin hier. Und ich höre zu.
    Ganz liebe Grüße. Ria

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    1. Danke, das bedeutet mir sehr viel.
      Dir auch liebste Grüße!

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