Dienstag, April 25

Märchen.

Ist es eine Geschichte, ich weiß es nicht, das sollte sie zumindest sein. Sie handelt von einem Sarg, mit Blumen geschmückt, oder von einem Märchen, die Hoffnung auf ein gutes Neues. Wie soll sie heißen? Angst. Trauer. Nur noch ein halbes Mädchen mehr. Aber was, wenn sie nach dem Ganzen fragen, wo ist es nur geblieben, die Wahrheit zwischen all den Worten? Und ist das denn überhaupt eine Geschichte, wenn sie Gedanken verschweigt zwischen den getippten Zeilen? Hört ihr sie trotzdem, wenn ich sie nicht ausspreche, die Hand vor dem Mund schlage, weil ich mich vor dem fürchte, was gehört werden könnte?

Das ist eine Geschichte und sie handelt von einem Mädchen und ihrer Wahrhaftigkeit und dem Versuch auf ein gutes Neues.

Ich ging über die Türschwelle, als könnte irgendeine Tür ein Weg in ein neues Leben sein. Noch jetzt schmunzele ich bei dem Gedanken, überhaupt geglaubt zu haben, etwas könnte sich ändern in so einem beschissenen Leben. Kennt ihr die guten Geschichten? Die, die damit enden, dass die geliebte Mutter ihr Kind an die Brust schmiegt und zuhört, wie es schnauft beim Schlafen? Ich kenne die nicht. Vielleicht vom Hören, oder vom Lesen oder von irgendeinem Film, den ich nicht anschauen konnte, ihr wisst schon, zu viele Tränen.
Ich war 13, als ich meinen ersten Freund hatte, diese alte Kinderliebe. Händchen halten. Das erste Mal küssen. Kuschelnd kitschige Liebesfilme ansehen. Ich konnte die Unschuld hören, die bei den ahnungslosen "Ich liebe dich."'s mitgeflüstert wurden. Wie konnte so ein kleines Mädchen ahnen, dass aus so einer bedeutungslosen Maus ein riesiger Elefant werden konnte. Mein Vater verprügelte mich so sehr, dass ich fast eine ganze Woche nicht in die Schule gehen konnte. Ich frage mich wovor ich Angst hatte, warum ich mich vor der Frage fürchtete, woher die blauen Flecken kamen, warum ich ein Auge fast nicht öffnen konnte, warum jemand mir weh getan hat, obwohl ich noch so klein und so unschuldig war. Ich schämte mich, nicht für ihn, sondern wegen diesem Gefühl etwas zu sein, das falsch und fehl am Platz war. Soweit kann ich mich zurück erinnern, das war der Tropfen mit dem der Fass überging und mich mitnahm, als hätte ich keine andere Wahl. Willkommen, das war meine Depression.
Ich war 14, die Nacht war warm, die Lichter kunterbunt. Die Sterne lächelten, als wussten sie nicht, was passieren hätte können. Sie verschwiegen die Zukunft, sie verschwiegen den Schmerz, der hätte losbrechen sollen. Sie verschwiegen meine noch größere Freundin, die Angst. Und schon wieder wurde aus einer bedeutungslosen Maus ein enormer Elefant, wie hätte ich das nun geahnt? Der Typ tuschelte und lachte, mein Cousin meinte, er hätte mich angemacht. Der Streit wurde groß, die Menschen sammelten sich an, ich ging unter. Das war die Nacht, als mein Vater mich aus meinem Bett rauszog und ins Auto setzte. Je länger er schwieg, desto mehr konnte ich hören, dass etwas auf mich zukam, das ich hätte stoppen sollen. Ich hätte schreien sollen oder treten, ich hätte Hilfe holen müssen, ich hätte mich retten müssen. Aber ich saß da, als hätte ich keine andere Wahl und ließ mich fahren in eine endlose Schreckensachterbahn. Das war die Nacht, als der Mond hinter dem See unterging, mit der Hand meines Vaters an meinem Nacken. Das war die Nacht, als meine Kindheit so stark zerbrach, dass ich das Erwachsenwerden übersprang und mit einer toten Seele übrig blieb. Das kalte Wasser platschte mir ins Gesicht, verschmutzt durch die zittrige Bewegungen meiner Füße, Erde hob sich auf, Staub versammelte sich in meinem Mund, ich ertrank. Das war die Nacht, als mein Vater mich umzubringen versuchte. Schwärze. Ich wachte irgendwann im Auto auf, das war zumindest die nächste Erinnerung. Kälte. Nässe. Schlamm an meinen Füßen. Dann wieder die Schwärze. Das kalte Wasser der Dusche regnete auf mich herab, der Schlamm löste sich, die Kleidung immer noch nass. Das war die Nacht, als ich meinen Vater verlor, es war die Nacht, als ich mich verlor.
Das selbe Jahr, später. Ich sah eine winzige Hoffnung am Ende des dunklen Tunnels, jemand streckte mir die Hand entgegen. "Mama? Weißt du noch die Nacht, als ich in der Dusche stand? Vater sagte, wir hätten einen Spaziergang gemacht. Er hat versucht mich umzubringen." Und ich dachte, deine Stärke würde auf mich aufprallen, dein Mut, dein Muttersein, Geborgenheit, Zuhause, Angekommen. "Das hat er sicher nicht so gemeint." Ich war 14. Und ich wusste nicht, wie man sowas nicht so meinen könnte. Ich bin jetzt 19, ich weiß es immer noch nicht. Das war der Tag, an dem ich meine Mutter verlor, es war der Tag, an dem ich wusste, ich würde mich nie wieder finden.
Das selbe Jahr, mittendrin. Schon wieder warst du da. Blond, blauäugig, wie konntest du überhaupt ein Türke sein? Was auch immer. Du hast mich eingeengt, manchmal mit deiner Liebe, ein anderes Mal mit deiner Eifersucht. Du warst da, vielleicht zu oft, vielleicht zu sehr, vielleicht zu viel und manchmal gleichzeitig zu wenig. Und als ich ging, weil ich so verloren war, dass ich uns nicht finden konnte zwischen all den Bedingungen, die du an mich gestellt hast, hast du nach meinem Ruf gegriffen. Ich war im ersten Jahr im Gymnasium mit all deinen Freunden, du hast Lügen erzählt, ich war die Neue, die keiner kannte, aber sofort die Schlampe. Nacktfotos, die nicht mich zeigten. Geschichten, die nie erlebt wurden. Sex, der nie stattfand. Und ich erinnere mich an die aufrichtigen Worte über dich, die ich schrieb und schrieb. Was anderes blieb mir denn, außer die Wahrheit, die flüchtig noch an meinem Schreibtisch brannte, denn auf all den anderen brannten Lügen über mich, sie verbrannten mit meiner Unschuld und meinem Ruf mit. Ein Blog, ein Text würde ja die Welt verändern. Solang ich die Wahrheit erzählte, würde sie irgendwann ans Licht kommen, nicht nur auf meinem Schreibtisch mit der kratzigen Lampe, sondern am Tageslicht und ohne den schweren, gelogenen Geschichten. Aber du hast mich bedroht, du würdest meinem Vater Dinge über mich erzählen. Du, der einzige, der mein größtes Geheimnis wusste. Das, was ich sogar vor mir versuchte zu verstecken, das, was ich in allen Schränke meiner Gedanken für immer einsperrte, meinen Vater. Du hast meine Angst gegen mich verwendet. Du warst ein Lügner. Du wolltest mich zu Sex zwingen. Du hast mir meine Zukunft genommen. Und das war das Jahr mit den größten Hoffnungen auf ein Neustart in einer neuen Schule, die mir durch einen Jungen, den ich liebte, genommen wurde.
Ich war 16, das Alter mit dem man denkt, man könnte die Welt retten, also wieso nicht auch mich selbst? Aber sie ließen mich nicht. Manchmal, da glaubt man gerne an die Menschheit, an das so tolle Dasein und an die Kraft, an die Hilfe, die kommen wird. Aber manchmal, da kommt sie nicht. Und da war dieser Junge, der sich lustig über meine frischen Narben machte. Aufmerksamkeitssüchtig. Schlampe. Was hätte ich denn so groß sagen sollen? Was hätte mich noch aus der Scheiße rausgezogen, in die man mich ohne meinen Taten, ohne meiner Meinung hinein geritten hatte. Ritzen. Das ist ein komplett anderes Thema. Ich war süchtig danach, nach der Erleichterung, die einsetze, als der Schmerz sich verbreitete. Die Erleichterung, die Wut loszuwerden, die Worte, die auf der Seele saßen, so schwer wurden und nicht weggingen. Ritzen. Das ist so ein riesen Thema. Ich konnte nicht aufhören, weil das der einzige Weg war, was anderes zu fühlen. Das selbe Jahr, ich bekam Geschichten über mich mit Typen zu hören, die ich höchstens in der Schule begrüßt habe.
Ich war 17, die Musik war so laut, dass ich mein Herzschlag nicht mehr spürte. Er war da, dieser Junge mit dem blonden Haar und den Meeren in den Augen. Ihr wisst, wen ich meine. Diese große Liebe. Und es war perfekt, ich hatte eine kleine Familie. Matthias. Verena. Bernhard. Serge. Etc. Etc. Und diese kleine, neue Schwester zog mich mit an das andere Ende der Bar, als ich eine Hand unter meinem Rock spürte. Das war die Nacht, als ich verstand, wieso ich Feminismus brauchte. Ich drehte mich um und starrte auf sechs große Lächeln, sie wussten es. Sie wussten, ich würde keine Szene machen. Sie wussten, ich würde es runterschlucken, denn das tat der Barkeeper auch und das Mädchen nebenan und natürlich ihr Freund. Sie wussten, ich hatte nicht den Mut und die Stimme genug, um mich aufzuregen, die Sache zu regeln, die Welt zu verändern. Und das wusste ich auch. Also drehte ich mich wieder um und schluckte es runter, die Erniedrigung, die Entwürdigung, die Geste, die mich zu einem Haufen Fleisch zum Anfassen machte. Und ein anders Mal ging der Typ nicht von meiner Seite, ich konnte nicht einmal mehr mitzählen, wie oft ich Nein! gesagt hatte, es waren viel zu viele Male. Und sein Gestank vom Alkohol kroch mir in den Rachen, sein Schweiß brannte auf meinen Händen, die auf seiner Brust lagen und ihn weg schubsten. Am Ende sagte ich, dass ich einen Freund hatte und er ging. Das war die Nacht, als ich verstanden habe, wieso ich eine Feministin sein sollte, weil dieser Mann einen anderen Mann mehr respektierte als meine Entscheidung über meinen Körper und meine eigene Seele.
Ich war 19, der Raum war dunkel und ich zitterte und schrie in einem Bett voller Taschentücher, Tränen und Blut. Das war der Abend, als ich dich endgültig verlor. Ich trau mich nicht zu sagen, dass das das Schlimmste in meinem Leben ist, das ist es wahrscheinlich nicht. Es ist einfach viel zu frisch. Aber ich kann dir sagen, dass es mich jetzt am meisten bricht. Du hast mir aus der Scheiße geholfen, du warst immer das Licht am Ende des Abends. Mit dir habe ich mir abgewöhnt mich zu ritzen, das brauchte ich nicht, mit dir habe ich genug gefühlt, um meinen Schmerz zu vergessen. Und das waren die Jahre, die mir beigebracht haben, dass ich andere Menschen zu Grunde führe, weil ich selbst nie verheilt werden konnte. Du hast dich für mich verändert, um die Schreie und die Monster auszuhalten, um nicht, so wie ich, durchzudrehen und Schlächter zu verlieren. Du hast dich verändert, um standhaft zu bleiben, wenn ich mit aller Wucht und Kraft mich dagegen lehnte. Du wolltest bleiben, für mich und dadurch habe ich dich verloren. Und das waren die Jahre, in denen ich gelernt habe zu lieben und dafür zu sterben. Das waren die Jahre, als ich gelernt habe, mich zu lieben ist für andere Menschen eine Strafe, weil ich mich selbst nie lieben konnte.

Und das war ein Teil meiner Geschichte. Die, die ich zu wenig vergessen konnte. Ein Märchen ist es vielleicht nicht, ich sehe darin keine Farbe. Nur fremde Hände voller Blut, das meines ist. Hoffe auf ein gutes Neues, zumindest für dich.

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