Sonntag, November 9

Jemand müsste da sein.

Aber du kennst sie nicht, denn wenn sie fällt, steht sie nicht mehr auf. Du kennst sie nicht, falls sie versinkt, will sie auch ertrinken. Du kennst sie nicht, gäbe es ein Ende, würde sie sich nicht dagegen entscheiden. Denn du kennst sie nicht, ihre Brust tut weh und sie hört nicht auf zu weinen. Allein sein bedeutet für sie neue Narben. Ballnacht, Klassenfeier, Ausgehen bedeutet Alkohol im Blut - endlich wieder nichts spüren. Tolle Klamotten im Kasten? Auch nur toll, wenn sie andere tragen. Gott, du kennst sie nicht. Sie hat Sprünge im Herzen, sie werden nie wieder heilen. Kannst ja sie in Wodka ertrinken lassen und darauf hoffen, die Kluften ihrer Seele so zu füllen oder du kannst falsche Hoffnung und unechte Liebe in die Risse ihres faulenden Herzens reingießen, darauf warten, es verharrt wie Zement und macht es wieder ein Ganzes, aber das wird es nicht, sie wird nicht heilen. Weil du kennst sie nicht, sie wird nie aufhören sich zu wünschen nicht mehr zu atmen.
Denn es müsste jemand da sein, der sie sieht. Jemand müsste an ihrem Bett stehen und sagen "aufstehen", ihr einen Kaffee bringen und über die müden Augen streicheln, ganz leicht, gerade so, dass sie weißt: hier ist also jemand, den es kümmert. Jemand müsste sie sehen, während sie aufsteht, rausgeht, durchdreht, jemand müsste dastehen und sagen: wir bekommen das schon hin. Jemand müsste zuschauen, wenn sie im Bus sitzt, sie und die Musik, sie und der Kaffee, sie und der Tag, der jetzt schon verschwimmt. Jemand müsste dann neben ihr sitzen und sagen: Da draußen taumeln und fallen doch alle, schau mal, wie sie sich beeilen, sich die Zeit zu vertreiben, die sie am Ende dann beklagen, weil sie immer zu wenig ist, die verdammte Zeit und wenn sie man mal hat, dann ist sie zu viel und jetzt trink deinen Kaffee aus und trink deinen Fruchtsaft aus biologisch-ökologisch-dynamischen Anbau und steig aus, die nächste Haltestelle, du weißt schon und dann holst du Luft und dann holst du die Zigaretten aus deiner Tasche und atmest den Rauch deiner eigenen Idiotie ein und dann lachst du gefälligst, dann lachst du, bis du keine Luft mehr bekommst. Jemand müsste da sein, an Tagen, wenn sie zerbricht und sich klein fühlt, weil sie keinen Ausweg mehr sieht und sich alleine fühlt, wenn die Welt um sie zerbricht. Jemand müsste dann da sein, ihre Hand nehmen, ihren Kopf auf seine Brust pressen und er müsste sagen: Es wird wieder, ich bin da, ich lass dich nicht los, du darfst zerbrechen, es ist okay, denn ich halte dich, ich lass dich nicht los. Jemand müsste da sein, in den Nächten, wenn sie trinkt und tanzt und fällt und schubst und sich bewegt wie jemand, der eine Ahnung hat von dem, was er da tut. Jemand müsste sie dann küssen und ihr sagen, dass er sie mag, hörst du, dass er sie wirklich mag, auch mit nassen Haaren, Pickeln und Angst. Jemand müsste da sein, wenn sie krank auf der Couch liegt und Achtunddreißig Grad Fieber hat. Jemand müsste dann da sein und ihr einen geschmacklosen Tee vorbereiten, sie dazu zwingen ihn zu trinken, ihren winzigen kranken Körper zudecken und auf die Stirn küssen und die ganze Nacht auf dem Boden neben ihr warten, dass wenn sie aufwachen sollte, dass sie dann weiß: jemand ist also da, dem es nicht egal ist. Jemand müsste da sein, wenn sie nachts alleine in ihrem Bett liegt und den Stimmen lauscht, den Ungeheuern, den Monstern und dem Pochen ihres Herzens. Jemand müsste dann da sein und ihr sagen, dass sie kämpfen muss und dass das nicht siegen bedeutet, aber versuchen und die die es nicht mal versuchen, die sind, die immer verlieren. Jemand müsste da sein, der ihr zuhört, wenn sie redet, der mit ihr Bücher liest und Bibliotheken ausräumt, der mit ihr Platten kauft, auch wenn er die Bands nicht mag. Jemand müsste da sein, der etwas von sich hergibt und das etwas von ihr nimmt, um nur mit ihr ein Ganzes zu sein. Jemand müsste da sein, der klatscht, wenn sie heult, der für sie schreit, wenn sie lacht, der für sie die Konsequenzen und die Schuld übernimmt, der sagt: so nicht, so auch nicht, aber so, das wäre doch eine Möglichkeit. Jemand müsste da sein, der still ist, wenn sie laut wird, der nachgibt, wenn sie stur ist, der sie beschützt und stolz auf sie ist, der auch nach heftigen Streiten, wenn Glas zerbricht und Polster zerrissen werden, der auch dann sagen kann: komm wir regeln das, ich liebe dich. Jemand müsste da sein, der sie fängt, wenn sie sich wieder mal zu schnell dreht, der löscht, was sie anzündet, der abbrennt, was sie ertränkt, der sie liebt und es auch so meint, der für sie tötet und für sie schreit, der sie liebt, der sie liebt und der sie sieht, der seinen Kopf in ihren Schoß legt und ihren ganz einnimmt, der ihr Herz und ihren Bauch besinnungslos besinnt.
Jemand müsste da sein, der nicht geht, wenn es schwer wird, der an ihrer Seite steht, auch wenn er an sich selbst verzweifelt, der nicht aufgibt, wenn Probleme und schlaflose Nächte vor ihm stehen. Jemand müsste da sein, der keine Angst davor hat zu glauben, sie ist die Richtige für ihn.



Umgeänderter Text von Kathrin Weßling

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