Montag, Dezember 4

Eine fremde Anomalie

Eigentlich bin ich eine Wissenschaftlerin, eine strenge, wortgewandte, hochgestochen sprechende Akademikerin. Ich kann Gefühl und Bruch kategorisieren und -Ismen ganz einfach definieren. Manchmal, wenn ich Menschen gegenüberstehe und systematische Ungerechtigkeiten auseinandernehme, vergesse ich, dass diese eigentlich meinen Knochen immanent sind. Dass der Schmerz und das Leid, die kosmopolitische Losgelösheit, ein ganz persönliches Fallbeispiel haben


und zwar mich. 


Ich vergesse auch oft, dass ich eigentlich ein Kind der abgedrehten Worte und des nervösen Schreibens bin, eine Künstlerin des Hochstapelns und des Etwas-meinen-ohne-es-wirklich-zu-sagens. Ich verbrachte Jahre damit, meine eigene Dystopien der Poesie als Opfergabe zu bringen, bis mich irgendwann das Exil rief. Die Schreie zogen mich raus aus den Landesgrenzen hinaus, weit weg von dem Drang meiner Worte. Bis die Spannung in den Fingern allmählich nachließ und das Knacksen im Kiefer fast ausblieb. Ich hängte mir eine bildungsbesessene Maske tief ins Gesicht. Verkannte selbst, dass ich eigentlich das dahinter bin. Hinter dem gesellschaftlichen Diskurs staute ich mich mit meinen Gefühlen auf, die ernst und faktisch korrekten Zitate umrahmten das entglittene Leben und brachten die Welt auf eine unermessliche Waage vor meinen Augen, um Ungleichheiten und systematische Gewalt abzuwiegen. Ich hatte fast vergessen, dass ich jedes Mal mich selbst dabei auf die Verliererseite der Waage legen musste. 

War ich wirklich keinem aufgefallen? Wurde ich nie als Verräterin entdeckt? Was hatte ich den Leuten vorgelogen, dass meine Neutralität so glaubwürdig schien? Hatte ich zu viel gelesen? Zu gut aufgepasst im Philosophieunterricht, als wir Susan Sontag bis Karl Marx lasen? Wer hatte mir, außer ich selbst, beigebracht, dass meine Emotionalität zu wenig ist, dass sie meiner Klugheit nicht das Wasser reichen darf. War ich so politisch informiert, weil ich mal in einem feministischen Lesekreis war? Oder einfach nur, weil meine Existenz keine Legitimation hatte in einem oh so sicheren Land.


Mit 26 bin wieder bei mir selbst angelangt. Ich möchte Schreien, mich in die Welt hinein brennen. Meine Narben blutig reißen, die deutschen Straßen mit dem Ausländerblut überschwemmen.

Heute bin ich wieder aufgewacht als ein Straßenhund, niemandem gehörend, außer mir selbst. Kalt und im Regen vergessen. Mein Mascara vermischt sich mit den Tropfen, das Salzwasser aber kocht mir mehr im Hals. Ich möchte Schreien, mich in die Welt hinein brennen: Ich werde mich an alles erinnern, das ihr vergessen haben magt. 

Aber das ist immer dieselbe Geschichte. Ich bin bereits müde ohne losgerannt zu sein. Ich bin müde bevor losgeschrien zu haben. Ich bin müde und setze mich an den Straßenrand. Ich bin müde, das ist immer schon meine Reise. Ich sage, ich möchte überleben. Begleite mich in eine andere Jahreszeit, dass ich mich traue neu zu beginnen. In der Dunkelheit des Fremden, in dem erstickenden Ozean, bin ich denn jemals am wirklich existieren? Strecken wir uns jemals einander entgegen?

Gott, falls du existierst, dann lass dem angefahrenen Reh auf der Bundesstraße zumindest irgendeine Art von Paradies übrig - etwas mit hohem, sanften Gras, durch dessen Halme das warme Sommerlicht durchblitzten kann. Begleite die Motten im rauchenden Licht der Veranda zu einem Platz mit Tausenden von glühenden Sonnen, in die sie sich hineinlegen können. Lass die Maus in den Abflusskanälen und zwischen den Kohlesäcken der Keller Trockenheit erleben, warmes Fell und volle Bäuche. Wenn ich sterben muss, einfach aus dem Grund, weil ich existiere, dann lass diesen Tod gütiger werden als die deutsche Menschenmenge.  

Ich lege mein Gesicht schief, es stimmt, du schuldest mir nichts. Ich könnte einfach gehen, einfach verschwinden, wenn alles einfach nur so einfach wäre. Würde ich dir damit einen Gefallen tun? Ich bin doch auch unerbittlich. Meine Schuhe füllen sich mit meinem eigenen Blut. Blasen auf den Wegen, auf denen ich zu mir selbst renne, aber dann doch umkehre. Ich fürchte mich davor bei mir anzukommen, mich zu verändern, mich zu sehr zu formen. Was, wenn es stimmt, was sie alle von mir denken und über mich und meinesgleichen sprechen? Ich wünschte, ich könnte dich einfach nur wollen, dir sagen, dass ich du bin und du bist ich. Aber nicht einmal ansehen kann ich dich, nicht sprechen. Sie zielten immer auf mich und trafen dich aus allen falschen Gründen. Ich habe wohl gelernt, dich einzusparen. Meine Schulden auf der gegenüberliegenden Seite türmten sich auf, ich könnte sie nie begleichen. Aber ich habe dafür gelernt mich und dich ganz ganz klein zu halten.

Ich habe Angst. Glattblaue Nachmittage werden mehr und mehr zu Friedhöfen, auch allein wegen meinem komischen Namen. Immer diese der-falsch-Mensch-stirbt-Szene, ich habe es so satt mir die Ohren zuzuhalten. Aber siehe da, der Boden zittert unter meinen Füßen, ich spüre den nächsten Abknall ganz nah an meiner Schläfe toben. All diese archaischen Wunden - ich blute oft, meist an denselben Stellen, den Sohlen. Ich habe sie von meinen Eltern geerbt, ich kenne jede Druckstelle, die Landesgrenzen überquerten. Sie sind in meine eingeschrieben wie Kerben, sie drücken und bluten. Aber wer drückt mich zum Bluten?

Lass uns hinlegen, unsere Kleider lassen wir an, bleiben zugeknüpft, dass uns keiner sehen kann. Ich habe es satt, dass sie ihre Blicke und Zungen dorthin stecken, wo sie nicht hingehören. Es sind die Hände von Dieben - ein Einbruch in meinen exotischen Vorhof. Es macht mich müde, verstehst du, was ich meine? Ich muss Streichhölzer für dich schlucken. Das Feuer bebt und brodelt, in meinen Augen steigt die pure Wut. Selbst die haben sie mir aber herausgenommen. Ich suche meinen Körper nach Kriegsnarben ab und weiß, sie haben die letzte zarte Stelle gefunden, um ihre Zähne darin versinken zu lassen.

Je länger ich hier bleibe, werde ich zu einem Schlachthaus, einer Massakerstation - mein ganz eigenes Leichenhaus. Ich werde zu meiner letzten Ruhestätte in einem Land, das mich nicht ruhen lässt. Ich streife die nervösen Worte von meiner Haut ab, ich blutbade mich ein letztes Mal in der Verzweiflung meiner eigenen Gedanken. Wenn das Selbstliebe ist, liebe ich mich wohl auf eine Art, die ich selbst nicht verstehen kann. Ich will nach Hause kommen - aber im Kofferraum liegt eine Flasche Raki, zu meinen Füßen ein weißer Mann. Er schaut zu mir auf, als wäre ich etwas Interessantes. Ich will nach Hause kommen, aber er meint, mit meinem türkischen Namen und dem österreichischen Pass, bin ich eine Anomalie in seinem Rechtsstaat.

Samstag, März 26

Der Sommer bricht nicht mehr ein.

Ich war beides und keines zugleich - vom Höhenflug bis zur absoluten Stille am tiefsten Punkt der Erde. Ich war das High-sein vom Sonnenlicht in der Morgenröte, wenn das Gesicht eintaucht in Welten und unkontrollierbare Gefühle; aber gleichzeitig auch das Stundenlang-an-die-Decke starren, denn es gab keinen Zweck für die Bewegung meiner Glieder, ich ließ sie einfach verharren. Ich war das lauthals Lachen am Esstisch mit meiner Familie, und das stechende Gefühl in der Brust zeitgleich, weil ich diese Familie schon vor Jahren verloren habe. Ich war die liebevollste Person, sie hatte zum Verschenken die allergrößte Liebe und ich verspreche dir, sie kannte keine einzige Grenze - sie war weit nach oben offen und hatte so viel Platz verborgen; und dann war ich aber wieder Schwere, wenn ich in einer zwischenmenschlichen Diskussion herausgefordert wurde. Ich war der Moment bevor man zusammenbricht, doch der Fall kam einfach nicht. Das erbrechende Gefühl im Bauch und der Stock im Hals und die Panik am Nacken zogen sich unendlich. Ich war ein Schmetterling, der Wind wehte mir durch die Flügel und wieder ins Gesicht, den Gewaltakt hatte ich fast vergessen, der bereits beim zweiten Flügenschlag auch schon wieder alles Existierende erlöschen ließ. Ich zählte die Stunden im Erker, die Sonne ging links hoch, rechts wieder unter. Jahreszeiten zogen sich vor meinen Augen, ich saß immer noch am Fenster. Der Herbst ließ die Blätter an den Straßenrändern ansammeln, ich trat in sie herein, wirbelte sie rum, lachte und vergaß all die Momente des Jagens, wie sie es mit meiner Lebensfreude taten. Der Winter schlug mir auf die Finger, doch es waren nun mal die verbotenen Dinge, die mir immer im Mittelpunkt halfen. Ich dosierte die Pillen nach Farben, ein bisschen meiner Zwangsstörung Genugtuung anvertrauen. Doch es kam der Frühling, ich tanzte mit nackten Füßen über den Parkettgrund, ein starker Arm drehte mich im Kreis herum. Ich habe gar nicht bemerkt, plötzlich war der Sommer da und ich hielt eine ganz andere Hand.

Und jetzt bin ich keines mehr davon. Weder Höhenflug, noch der tiefste Punkt. Ich hänge meist am seidenen Atemzug und lange nach Luft. Meine Lungen zucken aber nur die Schultern, es interessiert sie gar nicht - diese riesige Kluft. Ich versuche mich zu erinnern, wie sich glücklich sein denn anfühlte, ich stocke, ich überspiele - lächeln kann ich ja trotzdem noch. Also lächel ich grad mein Leben durch, aufregen tut mich eh keiner, das völlige Ausschalten kommt sofort wie ein Trost. Ich frage mich, verdammt, Çağla konzentrier dich. Aber schäle mich der Menge heraus. Eine Person lacht und ich denke mir einfach nur: wo ist das Gefühl hin, was ist, wenn ich das jetzt nachmache? Und wieder, jemand Neues fragt: Wie geht es dir? Und ich denk mir: Boah bitte halt einfach mal deine Fresse. 


Doch ich will gar nicht so sein, ich lege mich auf den Boden und schließe meine Augen fest zu, mache mich ganz ganz klein. Aber es gibt heute schon wieder nichts anderes zu tun, die Gleichgültigkeit zieht mir die Maschen an den Haarenden fest zu, schnürt mir die Schuhe und schickt mich auf die Straßen los, ich wandere wieder ziellos rum. Es gibt schon wieder nichts zu fühlen, nichts zu tun. Zähle die Sekunden zu Minuten, reihe die Minuten zu Stunden, hoffe, dass mich zumindest die Wut über die Dinge umgibt. Ich will doch einfach nur fühlen, dass in meinen eigenen Winter auch endlich dieser verfickte Sommer wieder einbricht.



Samstag, November 6

Soğuk bir Eylül günü.

Meine Traurigkeit trägt die Nacht als ihr Lieblingskleid, sie besitzt aber kein passendes Stück untertags, so legt sie sich eng an mich heran. Sitzt an meiner Haut, schnürt zu, macht sich unsichtbar, sodass sie keiner bemerken kann. Manchmal, in ganz plötzlichen Momenten, wie aus einem Riss der Situation heraus, wie ein Herschlag, der fehlerhaft zweimal klopft, ein zu lauter Wimpernschlag und ich schäle mich der Menge heraus, streichle unbemerkbar über meine Haut, frage mich, woraus ich denn heute so gemacht bin. Wo ich anfange und wo meine Traurigkeit beginnt. Wo ich wahr oder doch zu sehr vorgegaukelt bin.

Um sie von mir zu unterscheiden, sie zu befremden, sie festzuhalten, gebe ich ihr einen Namen. Eylül, soll sie heißen. Eylül, wie ein kalter frostiger Septembertag, der die Sonnenstrahlen als einen blutigen Kranz trägt. Meine Mom hätte mir beinahe diesen Namen gegeben, wie passend wär er doch nur für so ein trauriges Mädchen wie mir gewesen.

Eylül hat Narben, auf den Armen und den Beinen, die vom tiefen Ende eines scharfen Wassers stammen und wenn man genauer hinsieht erkennt man auch die leichten Gruben in ihren Fingerspitzenfalten, wie sie kraftlos versuchte alte Teile eines Standleymessers abzuknacksen. Ich frage Eylül bereits kurz nach ihrer großen Geburt, ich war da wohl 11 oder höchstens 12, wie es sich denn anfühlt, dieses ganze Blut. Später hab ich selbst die Frage oft gestellt bekommen und wurde jedes Mal davon bisschen mehr getroffen: „Es fühlt sich nicht immer alles nach etwas anderem an.“ Damals, mit wohl genau 12 nickte ich, als ich die Antwort bekam. Heute nicken andere, wenn sie sich getraut haben so respektlos zu sein.

Eylül hat Tage, an denen sie sich an Wünsche festklammert. Ich trau mich nie ganz ihr zu sagen, dass ihre Träume lediglich aus Zuckerwatte bestehen und ein bisschen Seifenblasen. Aus pink-gelben Blumen, deren Farbe auch meine Finger beschmutzen. Eylül trägt die Hoffnung ganz tief in ihrem Herzen, so tief, dass ihre Hoffnungen bald angefangen haben dort ein Loch einzusetzen, ihre Last lässt sie selbst nicht mehr wahr werden. Eylül wurde früh verwundet und früh hat sie verstanden, dass sie allein aus Wunden besteht.

Manchmal liegen wir zusammen im Bett, hellwach, die leere Decke wird unsere Leinwand. Sie zeichnet  verschiedene Menschen, während ich Luftlöcher mal', oft aber auch meine eigenen Eltern. Eylül ist manchmal böse, aber vor allem immer enttäuscht, denn es war schlussendlich mein eigenes Blut, das ihr als allererstes die Ruhe stahl und mir den Frieden verbot.

Aber anstatt den Kopf hängen zu lassen, haben wir einfach früh gelernt uns von dem Geräusch meiner Füße begeistern zu lassen, wie ich von Dingen weggehe, die mich nicht mehr leben lassen, es könnte mir das Herz zerreißen, aber zurückschauen ist nicht drin. Wir nehmen nur Abschiede, die für die Ewigkeit geformt sind. Also sind wir ständig auf der Suche nach einem neuen Ort, dem wir erneut stammen. Eylül hat‘s nicht so mit der Vergangenheit, ihre Mut besteht darin sie abzustreifen, sie verlassen wie das neue Land, dessen Grenzen wir Hand in Hand überschreiten. Und wir sehen dabei zu, wie mein Leben sich schließt und wieder öffnet - wie ein Scharnier, wie ein Flügelschlag, wie diese markante Stelle in dem Lied, in dem es über die Klippe springt; eine Art Explosion, wie im Auto auf der Rückbank, Augen schließen und die Hände aus dem Fenster ausstrecken, eine Art völliger Neuentdeckung.

Eylül ist 11 jetzt, 13 Jahr jünger als ich. Aber bereiter für die Lebensaufgaben, die sich vor meinen Augen ausbreiten. Sie möchte wissen, ein einziges Mal sehen, dass ich, wer auch immer ich bin, auch mal für eine kurze Zeit am freien Atemzug häng.

Und ich weiß nicht, ich scheine nicht unmittelbar viel mehr zu sein. Aber ich geb mir ein Sternchen dafür, dass ich mir dieses Jahr beim Auspusten der Kerzen nicht den Tod gewünscht hab. Ich geb mir ein zweites dazu, weil ich heute nicht mehr ganz so verkrampft war als ich mit einer halben Panikattacke vor der großen Menge stand. Und ein drittes, denn eine Aufzählung scheint immer einen dritten Punkt zu beinhalten. Also mal ich mir ein drittes Sternchen auf meine unsichtbare Pinnwand, während die Sonne in mein Zimmer strahlt, einfach nur dafür, dass ich schon wieder ein bisschen mehr bin, nur weil heute wieder die Sonne scheint.

Denn bisschen habe ich gelernt, das Glück im Herzen zu tragen. Ein bisschen kann ich heute sagen, dass es nicht immer meine Schuld zu sein scheint, wenn Eylül dicht an meinem Nacken weint. Manchmal ist es einfach der Herbst und manchmal einfach ein Mann, der den Winter beherrscht.